"Wo ist das hässliche Lämmchen?", schallt es schon mal durch den Stall, wenn der kleine Nücker nicht zur Einnahme der für ihn so wichtigen morgendlichen Milchmahlzeit parat steht. Mal abgesehen davon, dass ich diese verunglimpfende Bezeichnung für verbales Mobbing halte, das der kleinen Lämmchenseele bestimmt weh tut, muss ich sodann stets an das Märchen vom hässlichen Entlein denken. Nur eines passt wohl nicht: Das Schäfchen wird sich vermutlich niemals zum wunderschönen, prächtigen Schwan Bock entwickeln.
Das Sorgenkind des Hofes hat es mir angetan. Vielleicht berufsbedingt daran gewöhnt, als Anwalt der Schwächsten der Gesellschaft zu agieren, hat Nücki in mir eine fürsprechende Freundin gefunden, die zwecks Krauleinheiten für das liebebedürftige Lamm durchaus die ein oder andere kurze Arbeitspause während des Melkens einlegt.
Sehr häufig wird das Verb 'nückern', ein Begriff aus dem Niederdeutschen, im nord- bzw. plattdeutschen Sprachraum verwendet. Wer nückert, ist launisch. Er mäkelt beständig herum, scheint mit nichts zufrieden zu sein. Menschen, besonders Kinder, die lustlos in ihrem Essen herumstochern und nur winzige Häppchen zu sich nehmen, nückern. So werden manchmal verhältnismäßig sehr kleine, zarte Kinder oder auch das mit großem Abstand jüngste Kind einer Familie, das Nesthäkchen, liebevoll als Nücker bezeichnet.
Als Substantiv bedeutet 'Nücker' in etwa 'Laune' (wofür es selten benutzt wird), im übertragenen Sinne 'Laune der Natur'. Und so ist ein Nücker bei uns 'hier oben' in der Tierwelt das kleinste und schwächste Tier eines Wurfes, einer Brut, eines Rudels oder einer Herde. Das Tier, das aus darwinistischer Sicht in der freien Natur nicht überleben würde. Das Ferkel, das von der Sau totgebissen wird, der Welpe aus einem zu großen Wurf, der sich nie einen Platz an der Milchbar der Hündin erkämpfen kann, das winzige Küken, das aus dem Nest geworfen wird, wenn die Singvögel erkennen, dass das Nahrungsangebot z.B. in einem trockenen Sommer nicht für alle ausreichen wird.
"Unser" Nücker ist schon vier Monate alt. Während seine Halbbrüder (sie sind fast alle vom selben Bock - dem schnelleren der beiden hofeigenen Böcke - gezeugt), hoffentlich nicht wissen, dass sie nach einem kurzen, doch in Freihaltung schönem Leben, demnächst als Kotelett enden, ist der Nücker in 18 Wochen kaum gewachsen.
Die Mutter des Böckchens ist während seiner Geburt gestorben. Das kleine Waisenkind erhielt nie die Chance zu lernen, wie man Milch aus einem Euter saugt, denn andere Mutterschafe lassen fremde Lämmer nicht an sich ran, treten diese weg, gar tot. Dementsprechend konnte der kleine Mann auch nicht an einer Flasche nuckeln.
Das Tier einfach doot blieven loten, kommt auf diesem Bio-Hof zum Glück überhaupt nicht in Frage. Also wurde dem Lämmchen mit einer Spritze die Milch von Ammen - was für die Entwicklung eines starken Immunsystems eher hinderlich ist - ins Mäulchen geträufelt. Der Nücker überlebte die kritische Phase und ist überdies ein zäher Bursche: Er überstand einen schweren Fieberschub, durch den ihm sein gesamter Babyflaum ausfiel, wovon noch heute fast kahle Stellen an seinem schmächtigen Körper zeugen. Er hatte ein Herpes-Virus, wodurch die Schnauze kahl und von wässrigen Pickeln übersät wurde. An den Öhrchen bekam er heftigen Ausschlag und da Schafe sich nicht selbst jucken können, schubberte der Nücker sich die Ohren am groben Holzgatter wund. Noch heute sind diese verschorft und vernarbt.
Nücki kann mittlerweile selbst Gras und Getreidemischung fressen, für seine irgendwie stagnierende Entwicklung braucht er aber immer noch Milch. Schafsmilch. Frische Schafsmilch.
Nachdem ihm immer wieder die Zitzen von auf dem Melkstand befestigten Schafen ins Schnäuzchen geführt wurden, kann der Nücker nun auch saugen, was für seine Ernährung durchaus eine recht gute Voraussetzung ist.
Dank seiner geringen Körpergröße kann der Nücker sich unter das Gatter zum Stall hindurchzwängen und ist somit morgens oft das erste Schaf auf dem Melkstand. Es ist ihm allerdings nicht geheuer, wenn die erwachsenen Schafe die Rampe hinaufrennen, so dass er - sofern man ihn nicht rechtzeitig herunterhebt - ängstlich etwa 1,20 Meter in die Tiefe springt. Es wundert mich schon, dass er sich dabei noch nicht alle vier Beinchen gebrochen hat, doch Nücki ist wie gesagt zäh - ich habe ihn noch nie humpeln sehen.
Dann wird ein "liebes" Schaf, eines, das nicht so viel tritt, keinen Stepptanz veranstaltet, wenn sich ihm ein fremdes Lamm nähert, ausgesucht. Stellen wir Nücki mit derselben Blickrichtung wie die anderen Schafe auf den Melkstand, schaut er sich unsicher um, kommt nicht auf die Idee, sich umzudrehen. Manchmal lässt er ein klägliches "Mäh" ertönen, worauf jedes leibliche Mutterschaf umgehend reagieren würde, welches aber leider mit völliger Ignoranz bestraft wird. Es nützt nichts: Nücki muss rückwärts auf dem Melkstand eingeparkt werden!
Doch, das Euter und dessen Strich findet Nücki aus dieser Position heraus schon ganz alleine.
Ist er erstmal satt, gibt's für den lebensfrohen Nücker kein Halten mehr. Er läuft hinaus auf die Weide, wo er gar nicht mehr versucht, mit seinen Artgenossen, die ihn immer nur weggestoßen haben, zu spielen. Er ist eher um das Spiel mit einem Hasen, den Hühnern oder - wie im Bilderbuch - Schmetterlingen bemüht.
Der Nücker ist ein Kämpfer! Er lebt und wird uns morgens hoffentlich noch lange mit seiner tapsigen Unbeholfenheit, seiner putzigen Neugier und fröhlichen Bocksprüngen erheitern.
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